Das oft verkannte Potenzial für mehr Wohnraum
Alternative Lösungen wie Industrie- und Gewerbebrachen könnten Abhilfe schaffen.
In der Schweiz liegen aktuell rund 18 Mio. m2 ehemalige Industrie- und Gewerbeflächen brach – die meisten davon an attraktiver Lage und gar im beliebten Kanton Zürich. Deren Entwicklung kommt aber meist nur sehr schleppend oder gar nicht voran und das in Zeiten starker Zuwanderung und grosser Wohnungsnot. Die Gründe dafür sind zwar oft vielfältig, aber eine Nutzung dieser Flächen ist alternativlos.
Stark steigende Nachfrage trifft auf begrenztes Angebot
Die Schweiz erfährt seit den 1950er Jahren eine stetig hohe Zuwanderung und damit einhergehend ein Bevölkerungswachstum, welches in Europa seinesgleichen sucht. Seit 1960 hat die Wohnbevölkerung um 65% auf aktuell rund 8.8 Mio. zugenommen und wird gemäss Schätzungen des Bundesamtes für Statistik (BFS) bis im Jahr 2050 weiter auf rund 10.5 Mio. anwachsen. Dieses Bevölkerungswachstum, die gestiegene Pro-Kopf-Wohnfläche und die bereits heute zu geringe Bautätigkeit führt zu einer zunehmenden Anspannung des Wohnungsmarktes und das nicht nur in grossen Ballungszentren. Das zeigt sich in der seit Jahren fallenden und mittlerweile sehr niedrigen schweizweiten Leerstandquote.
«Der Wohnungsmarkt in den Städten ist angespannt. Und wie die Baubewilligungen zeigen, dürfte sich daran kaum etwas ändern.»
Dies sind alles Entwicklungen, die zwangsläufig zu noch mehr Zielkonflikten führen werden. Im Grunde stellen sie das Wirtschaftsmodell der Schweiz als Einwanderungsland, welches händeringend nach Fachkräften in sämtlichen Bereichen sucht, auf die Probe. Das Problem der zunehmenden Flächenversiegelung und somit des Schwundes von Naturflächen ist bekannt und dessen Bekämpfung zeigt sich zum einen durch den Beginn der systematischen Erfassung von Brachflächen durch den Bund Anfang der 2000er und in neuerer Zeit durch das deutliche Ja der Stimmbevölkerung zur Revision des Raumplanungsgesetzes im Jahr 2013. Dieses dürfte zu einer spürbaren Verdichtung des Wohnraumes führen; was aber auch nur ein Tropfen auf den heissen Stein zu sein scheint und schon gar keinen Ausweg aus dem Dilemma aufzeigt. Im Grunde ist bereits seit 1969 in der Bundesverfassung ein achtsamer Umgang mit Flächen verankert und Art. 75 der heutigen Verfassung verlangt explizit eine «haushälterische Nutzung des Bodens». Alternative Lösungen sind hier deshalb gefragt – und zwar besser früher als später.
Industrie- und Gewerbebrachen können Abhilfe schaffen
Die Gesamtfläche an Industrie- und Gewerbebrachen schätzt der Bund auf rund 18 Mio. m2. Inkludiert man ehemalige Militär-, Gleis- und Hafenflächen steigert sich diese gar auf 25 bis 35 Mio. m2. Flächen, die zu rund 80% an den Hauptverkehrsachsen in den Agglomerationen des Mittellandes liegen und gar oft an zentraler Innenstadtlage. Auf den Kanton Zürich entfällt ein Gros dieser Flächen. Gerade die Industrie- und Gewerbebrachen besitzen ein unfassbares Potenzial und würden bei einer durchschnittlichen Ausnutzung Platz für ca. 13 000 Unternehmen mit rund 140 000 Arbeitsplätzen und Wohnungen für rund 190 000 Personen bieten. Somit würde eine effiziente Nutzung dieser Flächen eine erhebliche Entlastung des Wohnungsmarktes in der Schweiz und vor allem in gefragten Lagen bedeuten.
«Ein Strukturwandel, der eine effiziente Nutzung von Industrie- und Gewerbebrachflächen anstrebt, würde erheblich zur Entlastung des Wohnungsmarkts beitragen.»
Zugleich geht mit solchen Projekten oft ein erheblicher struktureller Wandel in Bezug auf die Konzeption von Wohn- und Arbeitsraum einher. So stellen gerade Brachflächen aufgrund ihrer Grösse und der zentralen Lage ein Experimentierfeld für eine neue Art des Zusammenlebens und -arbeitens dar. Dies resultiert zunehmend in hybriden Wohn- und Arbeitsquartieren mit abgestimmten Freizeit- und Einkaufsmöglichkeiten. Es entsteht ein eigenes Ökosystem, sozusagen eine «Stadt in der Stadt». Damit einher geht, gerade in Ballungszentren, ein stärkerer Fokus auf die vertikale Expansion des Wohnraumes und somit die dringend notwendige Verdichtung dessen.
Soweit die Theorie. Die Praxis hinkt jedoch hinterher. Diesem Strukturwandel stehen eine Vielzahl von Hindernissen im Weg, welche die Entwicklung von Brachflächen meist zu einer komplexen und langwierigen Aufgabe machen, vor der Investoren oft zurückschrecken. Deshalb gibt es auch nur wenige Akteure im Markt, die überhaupt das notwendige Know-how und die Erfahrung für die Entwicklung solcher Projekte aufweisen. Gerade die langwierigen Planungsverfahren mit unzähligen Stakeholdern und zugleich potenziellen Einsprachen bergen eine ebenso grosse Unsicherheit wie die Altlasten, welche auf einem grossen Teil der Brachen vorhanden sind. Deren Beseitigung muss meist mitfinanziert werden.
Eines dieser Negativ-Beispiele ist das Areal «Spinnerei Schönau» in Wetzikon, dessen Bebauungsplanung eine 10-jährige Odyssee an Einsprachen und Gerichtsverfahren darstellt. Ein Ende ist aktuell nicht absehbar. Dass aber ebensolche Projekte wichtig und gar wegweisend sind, zeigen Paradebeispiele wie das Quartier «Europaallee» der SBB in Zürich oder das «Feldmühle-Areal» in Rorschach. Letzteres wird nichts Geringeres als der neue Stadtkern Rorschachs werden. Von den wirtschaftlichen und steuerlichen Potenzialen solcher Entwicklungen ganz zu schweigen.
Ein Umdenken muss stattfinden
Um an den bisherigen Erfolg des Wirtschaftsstandortes Schweiz weiter anknüpfen zu können, bedarf es nichts weniger als eines fundamentalen Umdenkens; vor allem in Bezug auf das Bevölkerungswachstum und den Umgang damit. Die schon philosophisch anmutende Frage nach den Grenzen des Wachstums hat sich bereits in den 1970er Jahren auf eine damals visionäre Art der «Club of Rome» gestellt: Eine der Autorinnen konkludierte passend: «Running the same system harder or faster will not change the pattern as long as the structure is not revised. » Ein klarer Aufruf zum Handeln! Folglich bedarf es für eine nachhaltige Nutzung der Industrie- und Gewerbebrachflächen einiger Veränderungen: 1) Die Politik muss Planungsverfahren vereinfachen und beschleunigen, 2) derartige Vorhaben bzw. die Übernahme der Altlasten-Risiken müssen gefördert werden und 3) Projektentwickler und Investoren müssen visionärer und lösungsorientierter denken. Frei nach der alten Lebensweisheit: Wer wagt, gewinnt.
Frédéric de Boer
Vizepräsident des Verwaltungsrats
Frédéric de Boer ist Vizepräsident des Verwaltungsrats der Fundamenta Real Estate AG und Gründungsmitglied sowie Partner der Zetra AG. Er ist lic.oec. HSG, hat einen MBA von INSEAD und über 30 Jahre Erfahung in Corporate Finance/M&A. Er hält auch verschiedene VR-Mandate nicht-kotierter Gesellschaften.